Meine Psychotherapeutin hat gut an mir verdient. Das war vor über zwanzig Jahren, und ich war ihr prominentester Patient. Ich mochte Doktor Hell und ihre Metaphern, mit denen sie komplizierte seelische Vorgänge verständlich erklärte. Sie hat das menschliche Unterbewusstsein einmal mit einem Bergwerk verglichen. Bei den meisten Menschen seien dort Erlebnisse und Erinnerungen zu taubem Gestein erstarrt, aber bei manchen Zeitgenossen befänden sich tief unten auch dünne Adern aus wertvollen Rohstoffen – und in ganz seltenen Fällen sogar Vorkommen von Diamanten.

So wie bei mir.

Aber es lauerten dort auch Gefahren, sagte sie.

So wie bei mir.

Ein wiederkehrender Albtraum hatte mich in Doktor Hells Praxis getrieben, eine unerklärliche Angst, die mich seit Langem plagte. Als Auslöser der Persönlichkeitsstörung verdächtigte sie sofort die Drogen, die ich im Laufe meiner Karriere geraucht, geschnieft, geschluckt und injiziert hatte, das Heroin und vor allem das verfluchte LSD. Nach einem schmerzhaften Entzug und etlichen Wochen in ihrer Klinik gab sie Entwarnung. Ich sei nicht schizophren, aber meine bereits in der Kindheit stark entwickelte Fantasie spiele mir Streiche, wenn ich unter der großen psychischen Belastung stünde, die mein Job mit sich bringe. Dass da noch viel mehr war, hat auch Doktor Hell nicht herausgefunden.

Sie empfahl mir aber dringend, den Beruf an den Nagel zu hängen, zumindest eine Zeit lang, um den angestauten Stress abzubauen. Nach längerem Zaudern folgte ich ihrem Rat, und meine Psychose verschwand von einem Tag auf den anderen.

Der glückliche Zustand hielt zwei Dekaden an.

Dann kehrte der Albtraum zurück, tief aus dem Bergwerk meiner Seele, und mit ihm die Angst, schlimmer als je zuvor.

Ich vermute, dass Doktor Hell nie ein echtes Bergwerk von innen gesehen hat, ganz im Gegensatz zu mir. Ich befinde mich gerade in so einem gottverdammten Stollen, grausame Ironie des Schicksals. Gegen meinen Willen sitze ich tausend Meter unter dem Erdboden, gefesselt an einen grob gezimmerten Sessel aus amerikanischer Eiche. Mein Kopf wummert, mein Atem riecht abgestanden, meine Kehle ist trockener als die Wüste Gobi.

Scheiß Alkohol. Scheiß Drogen.

Ich bin mir absolut sicher, dass das hier real ist und keiner meiner Albträume. So ein grausames Szenario könnte meine Fantasie in tausend Jahren nicht ersinnen.

Drei Glatzköpfe starren mich aus dem Zwielicht an, eine Frau und zwei Männer. Sie sind gefesselt so wie ich. Ihre verstörten Gesichter werden durch das Licht einer flackernden Grubenlampe gespenstisch beleuchtet. Der Geruch von Petroleum hängt in der Luft, das Surren von Elektrizität ist hörbar. Ich glaube Angstschweiß zu riechen.

Man hat mir einen Auslöser in die rechte Hand gegeben, und mir erklärt, dass nichts geschähe, solange ich ihn nicht drückte. Zwei Drähte verbinden ihn mit der Apparatur außerhalb meines Gesichtsfeldes, die das nervtötende Surren erzeugt.

Man hat mir außerdem geschildert, was geschehen wird, wenn ich den Knopf aktiviere: Zweitausend Volt fließen durch den Körper von einem der Glatzköpfe. Er wird zucken und krampfen, seine Augen werden aus den Höhlen platzen, sein Gedärm wird sich unkontrolliert entleeren. Er wird bluten und brennen, bis er zu Klump verschmort ist.

 Vielleicht werde ich sein entsetzliches Kreischen nicht hören müssen, den bestialischen Gestank nicht riechen, den sein kochendes Fleisch im Todeskampf verbreitet.

 Denn wenn ich den Knopf drücke, und das werde ich irgendwann tun müssen, dann ereilt mich vermutlich das gleiche Schicksal.

 

  Drei Monate vorher

 

 »Geht es Ihnen nicht gut, Herr Thälmann?«

 »Doch, Heike, alles bestens«, sage ich. »Ich habe über ein Gedicht nachgedacht, das ich gern schreiben möchte. Verzeihen Sie bitte, ich war unhöflich.«

 Der vierjährige Marvin sitzt auf meinem Schoß und mampft in aller Gemütsruhe einen Schokokeks nach dem anderen. Dass die Hälfte seines Festmahls auf meiner schwarzen Lederhose landet, stört ihn wenig. Mich auch nicht, ich freue mich darüber, dass es ihm so gut geht.

 Als er von einem Kameraden zum Spielen gerufen wird, packt Marvin eine Handvoll Gummibärchen in die Vordertasche seiner blauen Latzhose und grinst mich an.

 »Vollat«, sagt er und zieht ab.

 Heike bemerkt meinen fragenden Blick.

 »Er meint Vorrat. Ist sein neues Lieblingswort.«

 Ich wische Marvins Kekskrümel von den Hosenbeinen und grinse.

 »Er hat sich prima entwickelt, seit er hier ist.«

 Heike sieht ihm zu, wie er auf die Rutsche klettert. Sie nickt versonnen.

 »Ja, Herr Thälmann, finde ich auch, dank Ihrer Hilfe. Sie sind ein Engel.«

 Die kompakte, kahlrasierte Sozialpädagogin sitzt mir gegenüber und nippt an einem roten Pott mit der Aufschrift Boss. Sie ist erst siebenundzwanzig Jahre alt, nur halb so alt wie ich, dennoch könnte ich mir keine bessere Leiterin für dieses Projekt vorstellen.

 »Ich? Ein Engel? Sie wissen schon, dass etliche Leute mit mir eher das Gegenteil verbinden?« Ich lache.

 Heike braucht einen Moment, um zu verstehen, was ich damit meine. Sie lacht ebenfalls. Es ist ein helles, fröhliches Geräusch.

 »Das ist aber lange her, Herr Thälmann.«

 »Ja. Doch allein, dass Sie wissen, was ich meine, genügt. Jedenfalls engagiere ich mich nicht, damit ich ein Lob von Ihnen bekomme.«

 Ich hoffe, sie nimmt es nicht als falsche Bescheidenheit, denn das ist es nicht.

 Der Garten des ehemaligen Gutshofs am Rande von Finkenwerder hallt vom fröhlichen Geschrei der spielenden Kinder wider. Die morgendliche Spätsommersonne scheint durch die alten Apfelbäume und zaubert Lichtreflexe auf die mit Wildblumen geschmückten Tische. Über der Scheune, die jetzt den Wohntrakt bildet, hängt ein großes, selbstgemaltes Banner mit vielen roten Herzen: 5 Jahre Schönblick. Danke, Herr Thälmann!!!

 Zu viel der Ehre. Natürlich bin ich stolz darauf, was meine Stiftung an Gutem geschaffen hat. Aber ein Engel bin ich deswegen noch lange nicht. Es ist ja nicht mein Verdienst, dass ich auf der Sonnenseite des Lebens geboren wurde und danach eimerweise Dusel hatte. Klar, ich habe hart an meiner Karriere gearbeitet, und Rückschläge musste ich ebenfalls einstecken, aber im Vergleich zu den Bewohnern meines Kinderheims bin ich immer ein Glückspilz gewesen.

 Die vierzehn Jungen und Mädchen, die hier eine Heimat gefunden haben, hatten das Pech, in die falsche Familie geboren worden zu sein oder gefühlskalte und überforderte Eltern zu haben. Manche sind durch einen Schicksalsschlag zu Waisen geworden, wie Marvin, der jetzt dort drüben mit seiner Latzhose unermüdlich die Rutsche wienert.

 Warum sollte ich ihnen nicht etwas von dem Wohlstand zurückgeben, den mir das Leben schenkte? Ich habe viel Geld verdient, mehr als ich je allein ausgeben kann. Gleichzeitig hatte ich tief im Innersten immer ein schlechtes Gewissen, so viel Glück gehabt zu haben. Eines Tages fragte mich meine Frau, warum ich mein Vermögen nicht mit anderen Menschen teilte.

 Und so wurde ich zum Stifter. Das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun, setzt mehr Endorphine frei als alles, was ich je zuvor getan habe. In meinem Fall mag der Satz unglaubwürdig klingen, aber es ist tatsächlich so.

 Mein Handy klingelt. Das Display zeigt die Nummer des Stiftungsbüros an.

 »Entschuldigen Sie mich für einen Moment?«

 Heike nickt.

 Ich stehe auf und entferne mich ein Stück vom Trubel.

 »Ja?«

 Die Sekretärin meldet sich. Der unsichere Klang ihrer Stimme verheißt nichts Gutes.

 »Sind Sie es, Herr Thälmann?«

 »Ja, Martha. Am Apparat.«

 »Es geht um Ihren Sohn …«

 Ich weiß, dass ein Unglück geschehen ist, noch bevor ich meine Frage ausspreche: »Ist ihm was passiert?«

 Martha antwortet behutsam, dennoch fühlen sich meine Knie an, als ob mir jemand mit voller Wucht einen Baseballschläger hineingedroschen hätte.

 Ich  beende  den Anruf und verabschiede mich eilig. Dann schwinge ich mich auf meine Vespa und rase in Richtung Innenstadt.

    Hoffentlich ist es nicht so schlimm, wie es sich anhört ...