Mein Vater hat AIDS erfunden. Dieses gottverdammte Genie, denkt Karsten von Hallstein. Er wurde nicht müde zu erklären, dass er und seine Mitstreiter die explosionsartige Ausbreitung der Afrikaner im Zaum halten wollten. Und ihre eigene, weiße Welt sauber.

   Wie man inzwischen weiß, ist das Virus nicht auf dem schwarzen Kontinent geblieben. Es breitete sich ungehindert auf dem Planeten aus und raffte Tausende hinweg.

   Doch Karsten von Hallsteins Vater verkaufte den kleinen Fauxpas als Erfolg. Immerhin habe die Seuche dafür gesorgt, den Schwulen, Schlampen und Junkies in unseren Gefilden ihre Grenzen aufzuzeigen.

  Ein gottverdammtes Genie in der Tat, denkt Karsten von Hallstein.

  Aber ich werde ihn übertrumpfen.

  Nicht nur ihn. Sie alle.

  Wilhelm von Hallstein zum Beispiel, der einem gewissen Adolf Hitler zur Macht verhalf. Oder Leonhard von Hallstein, der die Verschwörung verantwortete, die den wahren Ausgang des Ersten Weltkriegs vertuschte.

   Karsten von Hallstein kann seine Ahnenreihe bis ins sechzehnte Jahrhundert rückverfolgen, als einer seiner Vorfahren mit dem Plan scheiterte, Martin Luther zu ermorden. Dass andere Verschwörungen der illustren Familie ebenfalls ein wenig aus dem Ruder liefen, ist den von Hallsteins nicht anzulasten. Wer rechnet schon damit, dass so ein läppischer Krieg sich über dreißig Jahre hinzieht?

   Die Absichten der von Hallsteins und ihrer jeweils neunundzwanzig Mitstreiter dienten stets dem Wohle der Menschheit und – es ist ja keine Schande – auch dem der Privatschatulle.

   Man sieht dem alten Adelsgeschlecht seine Rührigkeit nicht an. Der Stamm hat unscheinbare Menschen hervorgebracht, und Karsten von Hallstein könnte sich rühmen, der Unauffälligste zu sein. Er ist zwar groß, aber schmal und blass. Sein rötliches Haar wird bereits schütter, und wenn er lächelt, wird sein Mund schief. Seinen Job bei einem bekannten deutschen Familienunternehmen erledigt er unaufgeregt und zur vollen Zufriedenheit des Eigentümers. Er ist verheiratet, hat zwei niedliche Töchter und einen Labrador, der mindestens einmal in der Woche irgendwo im Schloss auf einen Teppich kotzt.

   Richtig. Den alten Kasten mit den Türmen und Erkern besitzt Karsten auch. Und einen Berg von Schulden, denn so ein Schloss verschlingt ein Vermögen.

   Karsten selbst hat noch nie dazu beigetragen, die Welt zu verbessern. Ein paar kleine Geschichten haben die Dreißig schon inszeniert, seit er dort Mitglied ist, klar. Da gab es das Skandälchen mit ein paar Nutten, das einen Wirtschaftsminister der Sozen dazu zwang, sein Amt niederzulegen. Oder ein Datenschutzgesetz, welches das genaue Gegenteil dessen bewirkte, was sein Name suggerierte. Nichts Weltbewegendes.

   Beide Aktionen halfen vor allem Nummer drei dabei, seine Pfründe zu mehren.

   Aber Karstens Zeit wird kommen. Er weiß es.

    Dann treffen die Nachrichten des Herbstes ein – eine Flut von verstörenden Meldungen. Ein Aufschrei in der Presse und der Bevölkerung. Und Liesbeth, Karstens Frau, beginnt darüber zu spekulieren, was aus ihrem schönen Land, aus ihrem Europa nun werden würde, mit den ganzen Fremden, die da ankommen. Was mit den Arbeitsplätzen geschähe und der Sicherheit auf den Straßen. Und wie die Zukunft ihrer beiden Töchter aussähe.

    Düster, antwortet Karsten. Sehr düster.

    Aber er weiß, dass nun seine Stunde geschlagen hat. Es ist an der Zeit, den Club der Dreißig zu aktivieren und am ganz großen Rad zu drehen. Noch bevor er selbst zum Hörer greifen und eine Vollversammlung einberufen kann, meldet sich die Vierzehn bei ihm. Karsten ist die Achtzehn.

   Er habe da so eine Idee, sagt die Vierzehn. Und wenn Karsten sich in der Sache bewähre, dann könne er an deren Ende vielleicht sogar die Sechzehn beerben, wer weiß? Die Sechzehn ist schwer krank und von ihrer Position ist der Weg nach oben sperrangelweit offen.

   Klingt gut, klingt sehr gut, antwortet Karsten und legt den Hörer auf, noch bevor er ihm aus den vor Erregung feuchten Fingern gleiten kann.

   Zwei Stufen aufzurücken klingt verlockend, in der Tat. Sein Vater, der gottverdammte Erfinder von AIDS, war am Ende seiner Laufbahn Nummer sieben.

   Aber Karsten hat höhere Ziele.

    Viel höhere.

   Er will nach ganz oben. Er will Deutschland regieren.

   Als sein König.

 

 

Mittwoch, 5. Juni

 

   Die Reise war stressig. Nora Dahn schließt die Wohnungstür auf und stellt den Koffer ab. Sie zieht die Jacke aus, ihr Lieblingskleidungsstück. Grober, schwarzer Stoff mit runden Silberknöpfen – einst Teil der Uniform eines englischen Polizisten, von Nora auf einem Flohmarkt in London entdeckt.

    Ohne großes Interesse sieht sie die Post durch, die jemand säuberlich auf der kleinen Kommode im Gang gestapelt hat.

    Rechnungen und Werbung, das Übliche. Außer einem Brief, der mit Noras eigener, wenig geübter Handschrift adressiert ist.

   Annahme verweigert – zurück an Absender. Sie zerreißt ihn, so wie seine Vorgänger.

   Die Rechnungen kommen ins Besteckfach, zu ihren Schwestern. Aus den Augen aus dem Sinn.

   Das Aroma von frisch gebrühtem Kaffee umschmeichelt ihre Nase.

    Enes ist da, wie schön. Er macht anscheinend Home-Office.

    Noras Herz schlägt einen Tick heftiger.

    Auf Zehenspitzen schleicht sie in die Küche.

    Ein Sektkühler steht auf dem Tisch, darin eine angebrochene Flasche Moët & Chandon.

    Zwei Gläser.

   Hier stimmt etwas ganz und gar nicht. Woher kann er wissen, dass sie zwei Tage früher nach Hause kommt?

   Kann er nicht. Sie will ihn ja überraschen. Sie hat am Bahnhof extra einen Strauß rote Rosen für ihn gekauft.

   Die beiden Sektkelche sind benutzt. An einem haftet Lippenstift.

   Auf den wenigen Metern ins Schlafzimmer sucht Noras Gehirn fieberhaft nach einer unverfänglichen Erklärung für den Schampus und den roten Lippenabdruck.

   Es findet sich keine.

   Die Schlafzimmertür steht offen.

   Auf dem Bett kniet eine nackte, blonde Frau mit großen Hängebrüsten. Ihre Hände sind mit Noras Handschellen auf den Rücken gefesselt, im Mund steckt Noras Knebel.

    Enes, geschmückt mit Noras Ledermütze, dringt gerade stöhnend in sie ein ...